Misshandlungen schließen nicht nur körperliche Übergriffe ein. Weniger offensichtlich, jedoch ebenso folgenschwer ist eine emotionale Vernachlässigung. Das kann zu Verhaltensproblemen führen, welche die Kinder sozial immer mehr zu Außenseitern macht, erklärt ein Experte. Erfahrt hier mehr zu diesem sensiblen Thema …
Misshandlungen: mehr als 10 Prozent
Mehr als zehn Prozent unserer Kinder wachsen mit Misshandlung auf. Die emotionale Misshandlung ist bei weitem die häufigste Misshandlungsform, unter welcher Kinder leiden. Das sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Kai von Klitzing.
Der Fachmann forscht an der Universität Leipzig zu den langfristigen Folgen von Misshandlungen im jungen Alter. Er ist überzeugt, dass emotionale Vernachlässigung für Kinder genauso schädlich ist, wie körperliche Misshandlung.
Du kannst nichts!
„Du taugst nichts“ oder „du Missgeburt“ – solche anhaltenden verbalen Erniedrigungen schädigen junge Menschen. Genau so negativ wirken sich auch die Missachtung elementarer emotionaler Bedürfnisse oder die Verweigerung jeglicher altersangemessener Selbstständigkeit aus.
Zu den Folgeerscheinungen von Misshandlung zählen z.B. Depressionen, Suchterkrankungen, aber auch Herz-Kreislauferkrankungen. Auch körperliche Übergriffe entfalten ihre toxischen Wirkungen auf das Kind vor allem dann, wenn sie mit Lieblosigkeit und Herabwürdigung in der Eltern-Kind-Beziehung gepaart sind, weiß der Psychiater.
Positive Beziehungen schützen
Übergriffige Ereignisse wie zum Beispiel Gewalthandlungen in der Familie sind für das Kind extrem stressvoll. Vor allem aber die Abwesenheit einer liebevollen Umwelt ist eine schwer verträgliche Stress-Quelle.
Wir sehen aber auch, dass positive Beziehungserfahrungen außerhalb der Familie eine deutliche Schutzwirkung entfalten, sagt der Experte. Engagierte LehrerInnen, Freunde oder professionelle HelferInnen können beispielsweise so ein Schutzschild sein.
Es stellt sich natürlich auch die Frage, welche seelischen Einflüsse haben aktuelle Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine auf Kinder. „Die Corona-Pandemie hat das Problem der Kindesvernachlässigung wie unter einem Brennglas zugespitzt. (…) Welchen Effekt der Krieg in der Ukraine auf die Kinder hat, ist noch nicht wirklich abzusehen. Eine steigende Kriegsgefahr zeigt sich beispielsweise in einer Zunahme von Angstsymptomen vor allem bei den Kindern, die ihre Sorgen nicht mit fürsorglichen Eltern teilen können. Die Kinder, die selbst im Krieg leben oder mit ihren Familien vor dem Krieg fliehen müssen, sind natürlich besonders betroffen“, so Prof. Klitzing.
Zur Person & Buchtipp
Kai von Klitzing ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Universität Leipzig. Er war langjähriger Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie, und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig. Zusammen mit Dr. phil. Lars White leitet er an der Medizinischen Fakultät das Verbundprojekt AMIS.
Kürzlich erschien sein aktuelles Fachbuch unter dem Titel: „Vernachlässigung – Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern“ (ISBN: 978-3-608-98089-9).
FOTOS Colourbox, Stefan Straube/UKL, pexels.com (Freie Nutzung); Cover: Klett-Cotta Verlag